„Richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn eure Befreiung ist nahe!“
Wäre nicht dieser letzte Satz, wir müssten über dem heutigen Text des Lukas (Lk 21,20-28), der „Evangelium“ zu sein beansprucht, schier verzweifeln. Was haben Krieg und Verwüstung mit der Frohbotschaft Jesu zu tun? Was haben Angst und Schrecken vor dem Weltende, dem kosmischen Super-GAU im Evangelium zu suchen?
Gewiss sind das alles keine Worte des historischen Jesus, sondern eine Komposition des Lukas, der vielleicht 20 Jahre nach der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems durch die Römer seine markinische Vorlage neu schreibt. Nur hilft uns diese Einsicht nicht aus der Klemme. Der Text steht in der Heiligen Schrift und wird in der Liturgie als Wort Gottes verlesen. Was ist seine Botschaft hier und heute?
Das Kirchenjahr geht dem Ende zu, der Advent steht vor der Tür. So legt es sich nahe zu bedenken, was es mit dem Kommen des Menschensohns auf sich hat, der anderen Seite der kosmischen Erschütterung. Was bedeutet es für die Jüngerinnen und Jünger Jesu, um Jesu Kommen zu wissen und mit ihm rechnen zu dürfen? Bevor wir darauf zu antworten suchen, hören wir zunächst noch ein wenig vertieft in unseren Text hinein. Denn eines ist merkwürdig an ihm und bedarf unserer Aufmerksamkeit:
Warum schließt sich die Prophetie vom endzeitlichen Kommen des Menschensohns unmittelbar an die Ankündigung der Zerstörung Jerusalems an? Wie hängt beides zusammen? Liegt die Katastrophe von 70 n. Chr. für Lukas nicht schon mindestens zwei Jahrzehnte zurück? Und ist andererseits die Parusie für Lukas – im Unterschied etwa zu Paulus – nicht in zeitliche Ferne gerückt? Richtet sein Blick sich nicht in die Weite der Zukunft, in der es gilt, aller Welt das Evangelium zu verkündigen? Warum der traumatisierte Blick zurück auf die Zerstörung Jerusalems?
Fremd ist auch die Weise, wie Lukas von der Verwüstung Jerusalems durch die römischen Heere spricht. Kurz zuvor, in Kap. 19 heißt es:
„Als Jesus näherkam und die Stadt sah, weinte er über sie und sagte: […] Es werden Tage über dich kommen, in denen deine Feinde rings um dich einen Wall aufwerfen […]; sie werden dich und deine Kinder zerschmettern und keinen Stein in dir auf dem andern lassen, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast“ (Lk 19,41-44).
Jesus weint über die Stadt, weil sie ihren Kairos verpasst und einem schrecklichen Schicksal entgegensieht.
Solche Rede ist nicht neu, wir kennen sie aus dem Alten Testament. Juda hat nicht auf seine Propheten gehört. Gott antwortet mit der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier. Für Lukas ist die Verwüstung der Stadt die kollektive „Vergeltung“ dafür, dass sie ihren Messias abgelehnt hat. Was für ein schwer verdauliches Gottesbild?! Aber achten wir auf das Ende des ersten Teils unseres Evangeliums, wo es heißt: „Mit scharfen Schwert wird man sie erschlagen, als Gefangene wird man sie zu allen Völkern schleppen und Jerusalem wird von den Völkern zertreten werden, bis die Zeiten der Völker sich erfüllen“. Was bedeutet die zeitliche Grenze: „bis die Zeiten der Völker sich erfüllen“? Haben Gefangenschaft und Deportation aus der Heimat einmal ein Ende? Gibt es Hoffnung für das Volk Gottes auf ein Ende allen Leidens?
Dieser Satz, der die Zukunft nur verhüllend andeutet, verrät das Geschichtsbild des Lukas: Zuerst muss das Evangelium unter den Völkern verkündet werden, dann kommt auch für Israel eine Zeit des Aufatmens. Wann und wie das geschehen wird, bleibt den Menschen verborgen. „Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat. Aber ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde“, sagt Jesus seinen Jüngern vor seiner Himmelfahrt, als sie ihn fragen: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her?“ Gott ist der Herr der Geschichte, er bestimmt, wann „die Zeiten der Völker erfüllt“ sind, Jerusalem und Israel aufatmen können und der „Menschsohn“ kommt. Jetzt wird begreiflich, warum auf die Rede von der Gefangenschaft und Deportation der Juden in alle Welt unmittelbar die Prophetie vom Kommen des Menschensohns folgt. Lukas kann sich die Vollendung der Geschichte nicht ohne Israel vorstellen.
Gewiss ist das eine grandiose Vision, verwandt übrigens mit der des Paulus in Röm 9-11 – mit einer starken Prophetie am Ende. Aber die Geschichte der zurückliegenden zweitausend Jahre ist über diese Vision hinweggegangen. Dies zu erkennen, reicht aus unserer Perspektive ein Blick auf das letzte Jahrhundert mit Shoa und Gründung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina, des ersten seit der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. Sind deshalb „die Zeiten der Völker erfüllt“ und kann Israel aufatmen? Offenbar nicht.
Auch das Ende der Welt, das Lukas in apokalyptischer Tradition erwartet, hat keine Motivationskraft mehr. Nicht, dass auch wir uns um die Zukunft unseres Globus sorgen, von tobenden Meeren wissen, die im Tsunami ganze Landstriche ins Verderben reißen, Katastrophen befürchten, weil menschliche Unvernunft das Klima unserer Erde verändert. Aber all das Schreckliche, was Menschen in Zukunft erleben dürften – Katastrophen und Kriege um die Ressourcen dieser Erde –, darf nicht mit dem von Lukas Gemeinten verwechselt werden. Er spricht nicht von dem, was Menschen verschulden, sondern von einem kosmischen Ende, das Gott in seiner Freiheit setzt. Er folgt frühjüdischen Vorstellungen vom baldigen Ende der Zeit, die heute kaum mehr vermittelbar sind. Die moderne Astrophysik ermöglicht uns Einblicke in „Zeit-Räume“ des Weltalls, in dem unser Sonnensystem nur ein Tropfen in einem unfassbaren Ganzen ist. Derartige Einsichten, die sich wissenschaftlich ständig weiterentwickeln, können nicht durch mythische Erwartungen eines baldigen Kommens des Herrn auf den Wolken außer Kraft gesetzt werden. Nicht zufällig sind diese in Sekten ausgewandert, wo sie zuweilen skurrile Formen annehmen, wenn man meint, das nahe Ende der Welt berechnen zu können.
Baruch Spinoza, der große jüdische Schriftgelehrte und Philosoph des 17. Jahrhunderts, erklärt in seinem Theologisch-politischen Traktat: Gott offenbart sich entsprechend dem Vorstellungsvermögen der Propheten, er offenbart sich gemäß ihren Anschauungen, er offenbart sich in ihrer Zeit, zu ihrer Stunde. Überholt die Geschichte ihre Prophetien, so bleibt doch deren Kern.
Wenden wir diesen einfachen wie überzeugenden Grundsatz auf unseren Text an, dann entbirgt er seine Frohbotschaft, die zwei Pole hat: Gott gibt niemanden auf – und: Er ist den Seinen nahe. Beides gehört innerlich zusammen.
Gott gibt niemanden auf, erst recht nicht sein Volk. Wir Christen haben allzu lange gedacht, mit der Ablehnung Jesu durch die Autoritäten Jerusalems und der Zerstörung ihrer Stadt sei die Geschichte des Gottesvolks zu Ende und die Kirche sei an seine Stelle getreten. Die Töne, die Lukas im heutigen Evangelium wie insgesamt in seinem Geschichtswerk vernehmen lässt, hatten keine Chance gehört zu werden. Christlicher Erhabenheitsdünkel ließ es nicht zu.
Wir Menschen neigen dazu, Anderslebenden und Andersdenkenden nicht den Respekt entgegen zu bringen, den sie verdienen, sie abzuschreiben, ihnen aus dem Weg zu gehen.
Dabei könnte Begegnung gerade Neues eröffnen. Ich frage mich, ob nicht gerade dies eine Weise ist, wie Gott uns in überraschender Weise immer wieder nahekommen will. Er kommt auf sehr unterschiedliche Weise.
Woran erkennen wir seine Nähe? Wie erfahren wir, dass Jesus zu uns kommt? Das heutige Evangelium gibt Antwort: Sein Kommen befreit die Seinen von ihrer Daseins-Angst: „Richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn eure Befreiung ist nahe!“ Über die Völker aber heißt es: „Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen“.
Angst stellt sich ein, wenn der Mensch sich überfordert sieht und nicht mehr Herr der Lage ist, wenn die Wellen über ihm zusammenschlagen und die Zukunft unheimlich wird. Unheimlichkeit ist der Nährboden von Angst. Angst lähmt, kann aber auch wachrütteln und Kräfte freisetzen.
„Richtet euch auf und erhebt eure Häupter!“ Sich aufrichten, den Kopf nicht hängen lassen, erhobenen Hauptes und mit klaren Gedanken den Gefährdungen entgegentreten – das ist das Gegenteil von Depression und Angst, die den Menschen in sich zusammensinken lassen. „Erhebt eure Häupter!“ gilt für Lukas selbst angesichts des Todes. Zwar geht er mit dem Hauptstrom frühchristlichen Denkens von der Erwartung einer nicht allzu fernen Wiederkunft des Herrn aus. Aber er lässt Jesus am Kreuz auch dem bußfertigen Verbrecher erklären: „Noch heute wirst Du mit mir im Paradies sein“ (Lk°23,43). Wer glaubt, der kann trotz aller Bangigkeit und Angst sogar dem Sterben getrost entgegensehen. Für ihn bedeutet der Tod Begegnung mit seinem kommenden Herrn.
Das ist der Nerv unseres Textes: Glauben heißt Angst überwinden. Glauben setzt Kräfte frei – beim Einzelnen wie in der Gemeinschaft. In diesen Tagen ist viel von Ängsten in unserer Gesellschaft die Rede. Es gibt sie, sie werden aber auch mit politischer Absicht geschürt. Angst geht auch in unserer Kirche um, denn wir ahnen: ihre gegenwärtige Gestalt hält nicht mehr lange, und ihre neue kennen wir noch nicht. Abschied vom Alten ist immer ein Stück Sterben. Aus der Sicht des Glaubens freilich auch ein Schritt zur vertieften Begegnung mit dem Herrn. Er kommt uns entgegen und wir ihm. Sein Kommen ist unvorhersehbar, es geschieht in beglückenden Momenten, in Erfahrungen von Liebe, Freundschaft und Hilfe in Not, aber er ist uns auch nahe im Zweifel und der Suche nach Wahrheit. Ich erwarte meinen Herrn nicht auf den Wolken, sondern heute und morgen. Das macht neugierig, versetzt in eine Erwartungshaltung dem Anderen gegenüber und motiviert zum Aufbruch.
Kurz nach unserem Evangelientext heißt es in der eschatologischen Rede Jesu:
„Nehmt euch in acht, dass Rausch und Trunkenheit und die Sorgen des Alltags euer Herz nicht beschweren und dass jener Tag euch nicht plötzlich überrascht wie eine Falle; denn er wird über alle Bewohner der ganzen Erde hereinbrechen. Wachet und betet allezeit, damit ihr allem, was geschehen wird, entrinnen und vor den Menschensohn hintreten könnt“ (Lk 21,34-36).
Glauben heißt nüchtern und wachsam sein. Nüchternheit wehrt geschürten Ängsten, Wachsamkeit immunisiert gegenüber Beschwichtigungen. Ein solcher nüchterner, wachsamer Glaube atmet und lebt durch das Gebet, im gemeinschaftlichen wie im persönlichen. Lasst uns also in der kommenden Adventszeit Wachsamkeit im Gebet einüben, um jederzeit vor den Herrn treten zu können, wenn er kommt: heute oder morgen, aber auch in der Stunde unseres Todes.
AMEN
(c) Predigt von Prof. Dr. Michael Theobald am 28. November 2019 im Wilhelmsstift Tübingen