Mohn und Stern(e)

Ich bin dran, einen Beitrag zu diesem Blog zu verfassen, und mir fällt nichts ein. Die Deadline ist längst verstrichen. Mir fällt nichts ein. Die Bibel hat so viele Themen, sie deckt ein ganzes Leben ab, aber mir widerstrebt es, ein zufälliges Thema zu wählen.
Dann kam Esther. Am Faschingsdienstag wurde sie geboren, das dritte Kind von Freunden aus meiner Pfarrei. Sie sollte eigentlich zwei Tage später kommen, aber sie schien zu wissen, dass der ihr zugedachte Name etwas mit dem Fasching zu tun hat. Nicht mit dem christlichen Fasching, der als Karneval (carne vale) ein letztes Aufflammen der „Fleischeslust“ vor den „heiligen vierzig Tagen“ der Fastenzeit inszeniert, sondern mit dem jüdischen „Fasching“, Purim, bei dem sich jüdische Gläubige ebenfalls verkleiden und ausgelassen feiern. Purim – das Wort stammt vom hebräischen Wort pur, „Los“ oder „Schicksal“ – erinnert an die Rettung des jüdischen Volkes aus drohender Vernichtung. Die Geschichte dieser Rettung wird im alttestamentlichen Buch Ester erzählt.
Das Esterbuch gehört zu den fünf Megillot, den „Festrollen“, die in der Hebräischen Bibel zu den „Schriften“ zählen. Im christlichen Kanon wird es als „Geschichtsbuch“ gelesen, aber die Handlung der Esterrolle bezieht sich nicht auf ein konkretes historisches Ereignis, sondern erzählt exemplarisch von der immer wieder aufflammenden Feindschaft gegen das jüdische Volk. Sie ist fiktiv, Literatur.
Im Mittelpunkt steht Ester, die als Exiljüdin zusammen mit ihrem Cousin Mordechai in Persien lebt. Sie betritt die Bühne, nachdem Waschti, die junge Frau des despotischen Herrschers Artaxerxes, sich weigert, zum Objekt königlicher Machtdemonstration degradiert zu werden. Der König schäumt vor Wut, sucht sich einen Ersatz. Die Wahl fällt auf die schöne Ester, deren jüdische Herkunft zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt ist.
Als der Großwesir Haman, eifersüchtig und machtbesessen, die öffentliche Unterwerfung aller Juden fordert, sehen sich Mordechai und Ester vor eine schicksalhafte Entscheidung gestellt: ihre jüdische Identität und damit ihren Gott zu verraten oder in den Tod zu gehen. Ester riskiert im entscheidenden Moment ihr Leben, als sie ungefragt vor den König tritt und um Gnade für ihr Volk bittet. Ihr Mut wird belohnt. Am Ende hängt Haman an jenem Galgen, der er für Mordechai hatte errichten lassen.
In der hebräischen Fassung der Schrift kommt (anders als in der späteren griechischen) der Gottesname nirgendwo vor. Offenbar war man davon überzeugt, dass Gott auch dann gegenwärtig ist, wenn man ihn nicht unmittelbar erkennt. In der Ester-Erzählung wirkt er durch Ester.
Ich habe Hamantaschen gebacken, für Esthers Eltern und Geschwister. Die dreieckigen mit Mohn oder Fruchtmus gefüllten Teigtaschen werden am jüdischen Purimfest gegessen. Was sie mit dem Bösewicht Haman zu tun haben sollen, ist nicht ganz geklärt, aber sie schmecken lecker, nicht nach Verfolgung, sondern nach Leben und Freude.
Über dem Leben der kleinen Esther steht diese Geschichte der biblischen Ester als „Mitgift“ und Inspiration sozusagen. Esther ist nicht Jüdin, sondern katholisch, aber das Alte Testament steht, zusammen mit dem Neuen Testament, auch über dem Leben von Christen.
Was kann die biblische Ester einer katholischen Esther mit ins Leben geben? Die biblische Ester hat eine Identität und innere Freiheit. Sie ist loyal, lässt sich aber von der Macht nicht beeindrucken. Sie ist schön, klug – und vor allem mutig. Auf sie kommt es an.
Wahrscheinlich würden Esthers Eltern das heute schon sagen: Auf sie kommt es an. Sie ist nicht zufällig auf der Welt. Und spätestens wenn sie Hamantaschen essen kann, werden ihre Eltern ihr sicher auch die Geschichte ihrer Namenspatronin erzählen. Ihr Name stammt vermutlich von einem altiranischen Wort ab und bedeutet: Stern. In der jüdischen Tradition heißt sie „Hadassa“, Myrte.
Ach ja, das jüdische Purimfest ist in diesem Jahr weit vom christlichen Fasching entfernt. Es findet am 24. März statt, dem christlichen Palmsonntag. Den erreicht dieser Beitrag noch.

Andrea Pichlmeier