Von der St. Martins-Perspektive zum Bartimäus-Prinzip

Die anderen als Maßstab des eigenen Handelns

In den zehn Jahren, in denen ich mit Sr. Paulis Mels und Dieter Bauer Bibeltexte in Leichte Sprache übertrage, wurde mir v.a. eine wohlbekannte Wundergeschichte im Markusevangelium zum Schlüssel dafür, was inklusive Bibelübertragung bedeutet – und zugleich darüber hinaus weist.

Der blinde Bettler Bartimäus – von dem der Evangelist Markus in seinem Evangelium erzählt (Markus 10,46-52) – hört, dass Jesus in seine Nähe kommt und will unbedingt von ihm wahrgenommen werden. Seine Umgebung versucht ihn zum Schweigen zu bringen. Doch Jesus nimmt ihn wahr und ruft ihn zu sich.

Als der Blinde vor ihm steht, dürfte Jesus schnell klar sein, was dieser will. Die Geschichte könnte also ihren aus anderen Erzählungen bekannten Lauf nehmen: Jesus lobt Bartimäus‘ Glauben und macht ihn sehend. Doch bevor dies am Ende auch tatsächlich geschieht, legt die Erzählung mit einem Kurzdialog einen erzählerischen „Boxenstopp“ ein, der die Perspektive völlig auf den Kopf stellt: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Mk 10,51), so fragt Jesus den Bettler.

Auf gleicher Augenhöhe

Diese Frage dreht das Verhältnis zwischen scheinbar behinderter bzw. defizitärer und scheinbar hilfefähiger bzw. helfender Person um. Auch wenn Bartimäus‘ Blindheit offensichtlich ist, lässt sich Jesus nicht dazu verleiten, einfach „loszuheilen“. Sondern er fragt nach, was er (Bartimäus) will, dass er (Jesus) tun soll. Der Blick geht damit nicht, wie oft (und meist in durchaus gut gemeinter Absicht) von oben nach unten, vom Hilfe-Gewährenden zum Hilfe-Bedürftigen – in der Martins-Legende bereits den Kleinsten seit Jahrhunderten plastisch vor Augen gestellt. Der Blick geht stattdessen „auf gleicher Augenhöhe“ vom einen zum anderen. Das Ergebnis dieses Kommunikationsprozesses ist bis zur Antwort auf Jesu Frage völlig offen: Es könnte ja sein, dass Bartimäus gar nicht unbedingt sehen will, sondern viel dringender eine neue Decke für den Winter braucht …

„Was willst du, dass ich tun soll?“ Diese simple Frage ändert alles im Verhältnis der beiden: Bartimäus wird zum Subjekt seiner selbst. Und Bartimäus wird zugleich zum Maßstab des Handelns Jesu. Mit anderen Worten: Die/der andere entscheidet, was ich tue. Die/der andere bestimmt, was sie/er braucht, will, sucht, auch: fordert. Erst wenn ich das erfragt und erfahren habe, kann ich über mein Handeln nachdenken.

Eine Frage als Kompass fürs Handeln

Letztlich geht dieser Perspektivenwechsel weit über den Bereich der Inklusion hinaus. Er könnte Kompass für individuelles, spirituelles, gesellschaftlich wie kirchlich-pastorales Handeln überhaupt sein: Sich nicht selbstgewiss im Besitz der Wahrheit und des Wissens um die Bedürfnisse und Nöte anderer zu wähnen: „Ich weiß schon, was du brauchst – wenn du kommst, gebe ich es dir.“ Sondern achtsam und mit gleicher Würde die anderen wahrnehmen und nach ihren Sehnsüchten, Bedürfnissen und Erwartungen fragen. Und erst danach nach Wegen zu suchen, auf diese Sehnsüchte, Bedürfnisse und Erwartungen mit dem zu antworten, was ich bieten kann und was mir zur Verfügung steht.

Nach dem Bartimäus-Prinzip handeln heißt: Maßstab meines Handelns im Reich Gottes sind die anderen mit ihren Freuden, Hoffnungen und Nöten (vgl. den Anfang des Dokuments „Gaudium et Spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils).

Oder noch kürzer: Im Zentrum der Kirche steht der Mensch – er entscheidet, was zu tun ist.

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Leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags, der ursprünglich in BibelHeute 235 (2023) erschienen ist.

Zum Autor: Claudio Ettl ist stv. Direktor der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus Nürnberg und Mit-Initiator und Verantwortlicher des 2013 gestarteten Projekts „Evangelium in Leichter Sprache“ (www.evangelium-in-leichter-sprache.de)

Foto: „Auf Augenhöhe“ (Copyright Claudio Ettl)