Das volle Leben

Da schreiben wir monatlich, die Diözeanleiter und -leiterinnen des Katholischen Bibelwerk in Deutschland, und versuchen, Weizenkörner in die Unkrautwiese zu streuen, oder vielleicht auch ein bisschen Unkraut ins Weizenfeld zu setzen, je nach dem. Unkraut ist ja bekanntlich eine Frage der Definition.
Natürlich sind wir alle vielbeschäftigt und wägen doch jedes Wort, ob es taugt. Und deswegen muss man beim Schreiben haushalten. (Vom Haushalten wird weiter unten noch die Rede sein.) Ich verhehle also nicht, dass dieser Beitrag eine Art Recycling ist, allerdings ein ganz frisches, und zwar der Gedanken zum Sonntag in der lokalen Presse am 3. Ostersonntag:

Leben als letzte Gelegenheit

Ostern liegt inzwischen zwei Wochen zurück, die Ferien sind vorbei, wer Urlaub hatte, ist vermutlich zurück in der Arbeit. Für Christen ist allerdings immer noch Ostern, biblisch gesprochen: „der erste Tag der Woche“.
Der erste Tag der Woche ist, von der Kirche aus gesehen, nicht der Montag, sondern der Sonntag. Er gilt nach den sieben Tagen der Schöpfung als der „achte Tag“ und als der erste Tag einer neuen Schöpfung, die mit Jesus Christus beginnt. Und ab da wird nicht weitergezählt. Einen neunten Tag gibt es in der Perspektive des christlichen Glaubens nicht, denn mit dem Ostertag ist eine neue Schöpfung angebrochen, deren Tage nicht gezählt sind.
Es wäre schon schön, wenn wir nicht zählen müssten. Wir zählen das Geld, und wir zählen die Tage (die uns bleiben), weil wir als Christen eben doch noch, mit einem Bein gewissermaßen, in der alten Schöpfung stehen und alles ein Ende hat. „Früher lebten die Menschen 70 Jahre plus ewig“, schrieb die Soziologin Marianne Gronemeyer 1996 in einem Buch mit dem Titel „Das Leben als letzte Gelegenheit“. Untertitel: „Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit“.
Wir leben im Zeichen der Knappheit. Unsere Bedürfnisse sind in den sieben Schöpfungstagen, und das heißt: in der Welt, einfach nicht zu befriedigen. Die Welt ist endlich und wir sind es auch. Diese Einsicht bedeutet natürlich nicht, dass wir leben müssen, als sei das Leben „die letzte Gelegenheit“, denn wenn das jeder tut, bleibt für viele nicht viel übrig. Es kann nicht jeder alles herausholen. Wir müssen haushalten.
Aber was ist dann mit dem „Leben in Fülle“, das sich jeder wünscht und das Jesus im Johannesevangelium verspricht (Joh 10,10)? Ein frommer Wunsch fürs Jenseits, dessen wir uns auch als Christen vielleicht doch nicht immer so sicher sind?
In der zentralen Geschichte dieses Sonntags (für jene, die in den Gottesdienst gehen) sehen sich zwei Menschen ums Leben betrogen, jedenfalls um das, worauf die gehofft hatten. Die Erzählung ist den meisten bekannt, auch wenn sie nicht in den Gottesdienst gehen. Sie handelt von zwei Jüngern, die in ein Dorf namens Emmaus unterwegs sind und Jesus begegnen, ohne ihn zu erkennen.
Ich habe in Israel gelebt und vier Dörfer kennengelernt, die das antike Emmaus gewesen sein wollen. Offenbar ist die Erfahrung der beiden Jünger aus dem 24. Kapitel des Lukasevangeliums so vertraut, dass ein Dorf dafür nicht ausreicht.
Die Erfahrung dieser Jünger besteht im wesentlichen darin, dass sie nicht sehen. Sie sehen keinen Sinn in dem, was sie erlebt haben. Was hinter ihnen liegt, erscheint ihnen als ein einziger Verlust. Sie können auch dann noch keinen Sinn darin sehen, als ein Fremder kommt und ihnen die ganze Geschichte, ihre Geschichte, neu erzählt.
Es wird Abend, und es sieht aus, als wäre dieser erste Tag der Woche bald zu Ende. Dann werden sie eben weiterzählen, bis ihre Tage zu Ende sind.
Nein, das werden sie nicht, denn vorher gibt es ein Abendessen, und der Fremde bricht das Brot, wie man es üblicherweise tat, und wie Jesus es immer getan hat, und da erkennen sie ihn: Der Fremde ist Jesus. In diesem Moment geht ihnen auf, dass es alles doch einen Sinn hatte und dass nichts von dem, was sie verloren glaubten, wirklich verloren ist.
Vielleicht ist unser Leben ja tatsächlich die „letzte Gelegenheit“. Aber nicht in dem Sinn, dass wir alles herausholen müssten, was nur geht, sondern weil jeder Moment, den wir erleben oder erleiden, einen Sinn hat und – bleibt.
Mit dem zweiten Bein stehen Christen eben doch schon in der neuen Schöpfung, in der das Leben nicht in seiner Länge, sondern in seiner Tiefe und damit in der Fülle gegenwärtig ist. Das geht den Jüngern von Emmaus bei der schlichten Geste des Brotbrechens auf. Es ist die Geste und das Erkennungsmerkmal Jesu bis heute. Wer am Sonntag in den Gottesdienst geht, empfängt das Brot aus den Händen dessen, der ganz im Leben angekommen ist. Und da möchten wir ja alle hin.
Ich wünsche allen Lesern und Leserinnen viele Emmausbegegnungen!

Andrea Pichlmeier