Corona als Zeit der Gnade?

Ist Corona eine besondere Zeit der Gnade? So war in den letzten Wochen immer wieder zu lesen oder zu hören.

Eine Zeit, in der Tausende sterben und Hunderttausende erkranken oder um ihr Leben kämpfen; eine Zeit, in der ältere Mitmenschen isoliert sind und unter Einsamkeit leiden; eine Zeit, in der Kinder über Wochen hinweg weder Schule noch Sport- oder Spielplatz besuchen durften und Eltern im Homeoffice verzweifeln; eine Zeit, in der Geflüchtete weitgehend unbemerkt an den Grenzen Europas umkommen oder in ihrer Menschenwürde verletzt werden …  Kann man eine solche Zeit tatsächlich als „Zeit der Gnade“ bezeichnen – oder ist das nur zynisch?

Bei der Antwort auf diese Frage mag sich ein Blick in die Bibel lohnen. Was meint dort „Gnade“? Insbesondere bei Paulus finden sich einige interessante Gedanken dazu.

„Gnade und Friede sei mit euch!“

Gnade euch und Friede!“ So lautet wörtlich die Zusage, mit der Paulus am Anfang seiner Briefe seine Gemeinden begrüßt (u.a. Römer 1,7; 1 Korinther 1,3; 2 Korinther 1,2). Gott hat uns jetzt und ohne irgendwelche Vorbedingung oder Vorleistung seine Gnade und seinen Frieden geschenkt – so die unmissverständliche Botschaft.

Nun ist das mit Geschenken so eine Sache. Es gibt mindestens zwei Kategorien davon: Die erste Kategorie sind solche, die unmittelbar wirken, ohne erklärt werden zu müssen, wie ein Blumenstrauß oder ein Kuss. Zur zweiten Kategorie von Geschenken gehören solche, die ihre Wirkung erst entfalten, wenn sich die Beschenkten darauf einlassen, wie das Sportgerät oder der Kinogutschein. In welche Kategorien gehören also Gnade und Friede?

Friede? Überfließende Fülle

Beim Frieden liegt die Einordnung in die zweite Kategorie nahe: Friede fällt nicht vom Himmel, sondern muss aktiv geschaffen werden. Friede ist ein Geschenk, das erst Realität wird, wenn wir uns mit ihm beschäftigen, ihn suchen, erhalten, fördern. Der Friede, von dem Paulus schreibt, ist geprägt vom hebräischen shalom, der schon im Alten Testament eine zentrale Rolle spielt. Shalom ist dabei mehr als politischer Frieden, mehr als nur Abwesenheit von Krieg, mehr als bloße innere Seelenruhe. Shalom zielt auf das Ganze, meint das vollständige, nicht mehr steigerbare Heil-Sein von Menschen und Welt, den Zustand eines Lebens in überfließender Fülle, wie es z.B. das Bild vom übervollen Becher in Psalm 23,5 zeichnet.

Wie aber steht es mit der Gnade? Auf den ersten Blick gehört sie zur ersten Kategorie: Als Geschenk wirkt Gnade aus sich selbst heraus: Ich muss nichts damit anfangen, ich habe sie. Deshalb wundert es nicht, dass das griechische Wort charis nicht nur „Gnade“, sondern auch „Dank“ heißen kann: Gnade führt zu Dankbarkeit.

Der Begriff der Eu-charis-tie vereint diese zwei Ebenen: Eucharistie bedeutet von Herzen Dank sagen für das Geschenk jener Gnade, die Gott uns in Jesus Christus gegeben hat. Deshalb ist Gottes Gnade die Basis unseres christlichen Lebens und für Paulus – wie der Friede auch – nur ein anderes Wort für Gottes Liebe (vgl. Römer 5,5-8).

Gnade? Aktiv werden für Andere

Die Gnade gehört jedoch auch in die zweite Kategorie. Denn be-gnadet zu sein hat Folgen für mein Leben. Es betrifft nicht nur mich, sondern alle Menschen ebenso wie die Welt, in der ich lebe. Für diese aktivierende Wirkung der Gnade ist Paulus selbst das beste Beispiel. Paulus hat von Gott nicht nur persönliche Gnade, sondern auch einen handfesten Auftrag erhalten: Apostel zu sein, das Evangelium den Menschen und der Welt zu verkünden und es zu leben (Römer 1,5). Die Gnade ist der Motor für alles, was er tut. Wenn Paulus also seine Gemeinden an ihre eigene Be-gnadigung erinnert, erinnert er die Christinnen und Christen zugleich an den damit verbundenen Auftrag, persönlich entsprechend „gnädig“ zu handeln.

Wie sieht dieses Handeln konkret aus? Hier kommen die so genannten „Gnadengaben“ (griechisch Charismen, vgl. Römer 12 und 1 Korinther 12) bzw. Geistesgaben ins Spiel. Gottes Gnade motiviert die Menschen, entsprechend zu handeln – in der Frage, wie ich mein Leben persönlich gestalte, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe, wie ich Verantwortung für andere übernehme.  Sie tut dies auf vielfältige und manchmal auch überraschende Weise. „Wir haben unterschiedliche Gaben, je nach der uns verliehenen Gnade“ (Römer 12,6). Anders gesagt: In dieser Zeit der Gnade sind die Gnadengaben vielfältig gestreut – aber nicht hierarchisch sortiert. Es gibt Unterschiede, aber kein Gegeneinander-Ausspielen von Verantwortlichkeiten, kein „wichtig und weniger wichtig“ bei Aufgaben oder Ämtern. Entscheidend ist die gemeinsame Ausrichtung auf Christus; Status, Geschlecht, Herkunft oder anderes spielen dagegen keine Rolle mehr: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Galater 3,28).

Motor des Lebens

Gnade und Friede sei mit euch!“ Diese Zusage ist geschenkt – aber nicht umsonst. Gnade und Friede sind unverdiente Gaben, und sie haben Folgen. Wenn die Gnade (griechisch charis) Motor unseres Handelns wird, setzen wir uns für Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung ein und lassen so die Freude (griechisch chara) des Reiches Gottes real werden: „… das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude (chara) im Heiligen Geist (Römer 14,17).

Und deshalb ist es auch kein Zufall, dass der letzte Satz der christlichen Bibel eben diese geschenkte Zusage enthält: „Die Gnade des Herrn Jesus mit allen!“ (Offenbarung  22,21)

Geschenk mit Folgen

Kehren wir nochmals zur Ausgangsfrage zurück: Ist Corona eine besondere Zeit der Gnade?

Die Antwort ist ein doppeltes Nein: Nein – es verbietet sich, eine Zeit mit derartigen Herausforderungen, Benachteiligungen und Leiden für viele Menschen als „Geschenk“ eines Gottes zu deuten, der für alle Menschen ein „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) will.

Und nochmals Nein – als Christen leben wir seit unserer Taufe in einer Zeit der Gnade (und des Friedens). Diese Zusage ist nur dann mehr als bloße Verheißung oder Vertröstung auf eine irgendwann mal noch kommende, bessere Zeit, wenn wir sie als „Geschenk mit Folgen“ sehen: Sie erinnert uns an unsere eigene – von Gott zugetraute, weil geschenkte – Fähigkeit und Verantwortung, eine bessere, gerechtere und friedvollere Welt zu schaffen.

Corona ist keine besondere Zeit der Gnade – es liegt an uns, sie genau dazu werden zu lassen!

 

Dieser Beitrag entstand als Erläuterung des Jahresmottos 2020 des Erzbistums Bamberg „Gnade und Friede sei mit euch“ . Eine gekürzte Version erschien am 17.5.2020 im Heinrichsblatt, der Kirchenzeitung des Erzbistums Bamberg.

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