Verflucht und zugenäht!

Jetzt, jetzt, jetzt! Schnell, schnell, schnell! Ein solcher Ausruf würde gut in die gegenwärtige Zeit passen, ist in diesem Fall aber nicht Ausdruck der Leistungs- und Genussgesellschaft des 21. Jahrhunderts, sondern antike Ungeduld, die sich in sogenannten „defixiones“ oder Fluchtäfelchen Luft machte. Zugegeben, auch mir war dieser Bereich biblischer Umwelt unbekannt, bis mich die bibelwissenschaftliche Neugier zu einem verheißungsvoll angekündigten Kolloquium der Universität Mainz trieb.

„Mit Fluchtafeln (defixionum tabellae) und Gebeten um Gerechtigkeit“, so der Ausschreibungstext, „versuchten Menschen der Antike, erlittenes Unrecht auszugleichen, Wettkampfsituationen zu moderieren oder die Wechselfälle des Lebens günstig zu beeinflussen.“ Fluchtafeln stellten eine in der Antike verbreitete Form des Schadenszaubers dar. In der Regel verwendete man dazu dünne Bleistücke, auf die man schrieb oder schreiben ließ, was „auf natürlichem Weg“ nicht zu bewältigen war.
Mit ihrer Hilfe dieser Fluchtäfelchen (in der Regel waren es nur handtellergroße Exemplare) sollten Personen oder andere Lebewesen magisch-rituell bzw. mit der Hilfe einer Gottheit beeinflusst oder „gebunden“ (defigere) werden, um ihnen geistig oder körperlich Schaden zuzufügen. Das betreffende Anliegen wurde dann entweder bestimmten Gottheiten der Unterwelt anvertraut, die den Fluch vollziehen sollten, oder die Sache wurde durch die Erstellung der Tafel selbst als erledigt angesehen, auf jeden Fall sollte es „schnell, schnell, schnell“ gehen, und am besten sofort.

Darf die Bibel fluchen?

Das Fluchen bringt man in der Regel nicht mit den Texten des Alten oder Neuen Testaments in Verbindung, die im Bewusstsein von Gläubigen als „Heilige Schrift“ ethisch einwandfrei zu sein haben. Umso überraschender ist es, wenn man feststellt, dass nicht wenige Formulierungen im Neuen Testament dem Wortlaut der defixiones verdächtig ähnlich sind. So schreibt etwa Paulus in 1 Kor 16,22, wer „den Herrn nicht liebt, sei verflucht“, oder in Gal 3,10, diejenigen, die „aus den Werken des Gesetzes leben, stehen unter einem Fluch.“ In Mt 25,41 ruft der Weltenrichter, Jesus selbst, denen zu seiner Linken zu: „Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!“
Um nicht missverstanden zu werden: Ich will hier keiner biblischen Drohkulisse das Wort reden, im Gegenteil. Eine Referentin der Tagung betonte ausdrücklich, dass die biblische Sprachethik das Fluchen generell verpönt habe. Und dennoch stehen die verstörenden Worte und Bilder in der Bibel. Wer täte sich nicht schwer mit einem Wort wie dem in 1 Kor 5,5, wo Paulus in einem Fall von Inzest es für geboten hält, „diesen Menschen dem Satan (zu) übergeben zum Verderben seines Fleisches, damit sein Geist am Tag des Herrn gerettet wird.“ Auch wenn es sich dabei um eine ausschließlich verbale „Aktion“ gehandelt haben dürfte, kann spätestens hier niemand mehr sagen, das Neue Testament sei (im Unterschied zum Alten) zugänglich und leicht verständlich. Wer tiefer eintaucht in die Kultur, auf deren Boden das Neue Testament entstand, wird manchem begegnen, was fremd ist, unverständlich, verstörend. Die frühen Christen waren ebenso Kinder ihrer Zeit, wie wir es heute sind. Ihr Denken prägt die biblischen Texte, die wir so gern „überzeitlich“ hätten, in jeder Zeile.

Götter, Geister und Dämonen

Die antike Welt war voller Götter, unsichtbarer Geister, Dämonen. Im Markusevangelium begleiten die Dämonen Jesus auf Schritt und Tritt. Die Menschen lebten mit ihnen ebenso, wie sie heute mit Viren und mit Handystrahlen leben. Das Lukasevangelium erzählt ganz selbstverständlich von einer Frau, einer „Tochter Abrahams, die der Satan schon seit achtzehn Jahren gefesselt hielt“ (Lk 13,16), und die Jesus, an einem Sabbat, von ihrem Leiden befreit. Die Apostelgeschichte wiederum kennt einen Mann namens Simon, der sein Geld mit Zauberei verdient (Apg 8,9ff) und dabei auch noch recht erfolgreich ist. Möglicherweise ist er Jude, denn er trägt einen jüdischen Namen. An anderer Stelle (Apg 19,13) ist explizit von jüdischen (nicht heidnischen) „Beschwörern“ die Rede, die umherziehen und versuchen, den Namen Jesu über den bösen Geistern von Besessenen anzurufen. Diese sieben Söhne eines Hohenpriesters namens Skeuas tun nichts Anderes als das, was man als berufsmäßiger Exorzist in der Antike eben tut. Freilich, die Apostelgeschichte macht auch deutlich, daß es so nicht geht. Der Name Jesu ist keine „Methode“, und die Kraft über das Böse erwächst nur aus dem Glauben. Das bekommen die sieben Priestersöhne denn auch schmerzhaft zu spüren.
Und schließlich bedient sich das letzte Buch des Neuen Testaments, die „Offenbarung des Johannes“, einer Terminologie, wie man sie auch in den defixiones findet, wenn der Verfasser davon spricht, wie der Engel mit einer schweren Kette vom Himmel herabsteigt und den Teufel für tausend Jahre fesselt (Offb 20,1ff). Es ist eine faszinierende Welt, in der die menschlichen Abgründe bevölkert sind von unsichtbaren Wesen, denen man nur rituell und mit Hilfe der Götter beikommen kann.

Lieber doch segnen

Gefragt, ob die Verwünschungen der defixiones denn irgendeine nachweisbare Wirkung gehabt hätten, antwortete der betreffende Referent: Wohl nicht, denn dann wären vermutlich nicht viele Menschen übrig geblieben…
Das Denken und die Bilderwelt der Antike haben nicht Halt gemacht vor den biblischen Texten, denn die Botschaft von Jesus dem Auferstandenen richtete sich ja gerade an eine Welt, deren dunkle Seiten man nicht minder fürchtete als heute. Die biblischen Verfasser und ihre Adressaten und Adressatinnen kannten nur diese Welt, der sie freilich mit Röm 12,14 zurufen konnten: „Segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht!“ Sie hatten erkannt, daß das Segnen aus der Fülle Gottes heraus größere Kraft besitzt als rachegetriebene Verwünschungen. Und das dürfte heute nicht viel anders sein als zur Zeit des Neuen Testament, denn – verflucht und zugenäht! – zum Verwünschen braucht es keine handtellergroßen Bleitäfelchen, sondern im Zweifelsfall nur schlechte Laune. Zum Segnen aber steht uns die ganze Schöpfung zur Verfügung, gerade jetzt, jetzt, jetzt, in einem vor Leben strotzenden Frühling.

Dr. Andrea Pichlmeier, Referat Bibelpastoral Passau

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